Spiegelnetz und Kettenherz
First 5 pages – Free Preview
Nerash Vayl führt eine Schar Flüchtiger durch ein Reich aus Ruinen, Erinnerungen und gebrochenen Göttern – ein Spiegelnetz, das Namen frisst und Wahrheit in Blindstellen verwandelt. Zwischen den Glocken eines verehrten Kerns und dem gebundenen Drachen, dessen Kette wie eine Harfe über die Stadt spannt, entfaltet sich ein Kampf um Sprache, Schuld und Gnade: Ein verbotener Name liegt wie ein Funke in Nerashs Protokollen – genug Macht, um Bindungen zu sprengen oder Leben in endlose Unterwerfung zu stürzen. Mit Nyra Quell, der kalten Handwerksmagierin, und Sableh Nyrr, deren Erinnerung zerschnitten ist, muss Nerash entscheiden, welche Opfer nötig sind, um die Flut aus Spiegeln zu stoppen, die menschliche Seelen zerteilt. Nyxara Vell jagt sie durch die Tiefen des Archivs und lenkt das Netz, doch das eigentliche Ritual ist ein moralisches: Wem gehört die Macht über Namen und Erinnerung – und darf man Vergeltung in Erlösung verwandeln? Ein spannender, dunkler Fantasyroman über Sprache als Waffe, die Preisgabe der Vergangenheit und die fragile Grenze zwischen Schuld und Mitgefühl.
Page 1
Der Wind roch nach kaltem Eisen und Harz, als er über die verwitterten Wälder strich und an den schimmernden Megastrukturen zerschellte, die wie Zinnen eines gefallenen Himmels in den Nebel schnitten. Unter den Kuppeln der Königreiche loderten Wachfeuer, deren Rauch in das Gewebe der Nacht kroch. Nerash Vayl glitt durch die Rippen des alten Klimaarchivs, wo Glas zu Salz und Daten zu Staub geworden waren. Über ihr summten die Schleier-Netze: unsichtbare Schnüre, mit deren Knoten die Macht die Städte zähmte.
Ihre Bewegungen waren weich wie gehütete Schuld. Schlank, staubgraues Haar, links das irisierende Auge, das das Netz sah, wie andere die Sterne; eine Narbe über Schläfe und Hals, die von Drohnen erzählte, die zu nah geflogen waren. Die Lederjacke, in deren Futter verbotene Leitbahnen schimmerten, und der ölbefleckte Mantel trugen kleine Geräte, Gedächtnissplitter — und die zerbrochene Spieluhr, deren Stille ihr manchmal lauter vorkam als Lärm. Sie war einst Technikerin des Schleiers gewesen, und die Archive kannten ihren Atem.
„Wach auf“, flüsterte sie in einen toten Kern, eine verlassene Servitor-Kugel, deren Runen schliefen. Ihre Finger zeichneten Altzeichen: Runenprotokolle, die juristische Siegel in Ornamente und Überwachungsströme in Liedlinien verwandelten. Das Auge glomm, als sie falsche Signaturen in das Netz webte. Der Kern erwiderte mit abgerissenen Voten, Fetzen von Liturgien des Konsortiums. Darin schwang ein Name wie kalte Asche: Schattensätzerin. Nyxara Vell, sagten die Geraune. Eine, die Spiegel aufzog und in ihnen Identitäten zerlegte, bis die Splitter gehorchten.
Sableh Nyrr wartete in einem Seitengang, wo Wurzeln Mauerwerk sprengten, und der Regen Gerüche von Öl, Blut und feuchten Bücherleibern mischte. Ihre Augen, matte Panoramen, hielten Überwachungsfeeds neben alten Familienfotos fest, ein fremdes Lächeln blieb darin hängen wie ein Irrlicht. „Du bringst sie?“, fragte sie, die Stimme wie ferne Statik. „Drei heute. Zwei Kinder, eine, die singt, wenn sie Angst hat“, antwortete Nerash. Sableh nickte. „Der Götterzehnt wird wieder eingetrieben. Die Priester des Kernes nennen es Wetterabgabe. Ich nenne es Hunger.“
Nerash registrierte die Wetzgeräusche der Drohnen fern am Dachfirst, zog Furchenspuren im Spiegelnetz und legte eine falsche Schicht darüber, ein Trugbild aus erfundenen Gängen und erfundenen Herzschlägen. „Wenn wir sie führen, verlieren wir jemanden anderen“, sagte sie leise. Sableh legte ihr eine Hand aufs Handgelenk, Narben auf Narben. „Wir verlieren immer. Die Frage ist: Wofür?“ Ein Kind blinzelte zu Nerash auf. In den hellen Augen hing der Glanz eines Drachenmärchens, nicht der Staub der Werkhallen.
Die Litanei, Nyra Quells Werkstatt, duckte sich wie ein sündiges Gebet an die vernachlässigten Viertel: Metallgeruch, Ache, ein Summen von Kabeln, die an die Wände genagelt waren wie Reliquien. Nyra, halb Glas und Narben, schaute Nerash mit einer Mischung aus Spott und Müdigkeit an. „Du bringst mir Ärger“, murmelte sie. „Ich bringe dir Lücken“, erwiderte Nerash. „Narrenknoten im Spiegelnetz, zwei Straßenzüge westlich. Und ich brauche einen Geist — eine Identität, die singt und dann vergisst.“ Nyra schniefte, zynisch. „Nichts ist gratis.“
Page 2
„Die Königshalle von Aeris hat gestern ein Paket ausgehändigt bekommen“, sagte Nyra, während ihre Finger über biometallene Fäden fuhren. „Götterpaket, nennen sie es. Segnungen aus dem Kern, Saaten, die nur mit patentiertem Tau wachsen. Und da war eine Kette aus Schuppen und Knochen, die sie am Turm befestigten. Drachensteuer. Nyxara Vell ließ sie liefern, sagten sie hinter vorgehaltener Hand.“ Nerashs Nacken brannte. „Vell? Sicher?“, fragte sie. Nyra zuckte mit den Schultern. „Sicher ist hier nur Schuld.“
Draußen spannte der Himmel seine dunkle Sehne. Weit über den Kuppeln zog ein Drachenleib, lang wie eine Gasse, mit Flügeln, die sich wie Pergament über Ruinen legten. Die Alten sagten, Drachen seien die Atemzüge der Götter, geronnen zu Fleisch, bevor die Königreiche Namen bekamen. Jetzt trugen sie Siegelketten, hörten auf visuelle Befehle, und der Rauch, den sie speiten, roch nach verstopften Filtern. Unter den Kuppeln verhandelten Thronräte mit Konzernkanzlern, als wären beide nur Priester verschiedener Altäre.
Manchmal vermischte sich in Nerashs Kopf Kindheitslicht mit Protokolllogs: ein Zimmer, in dem Regen an die Scheiben schrieb, und darunter eine Zeile: Zugriff verweigert. Sie hielt die Spieluhr dicht, fühlte, wie die Leere darin tickte. Sie war bereit, Türen zu versperren, Leben zu riskieren, wenn dadurch andere Wege offenblieben. Doch in ihr brannte ein Keim von Mitgefühl, trotzig und klein wie Unkraut im Asphalt. Wissen repariert, sagte sie sich. Oder es verdirbt. Vielleicht beides, wenn man ehrlich ist.
In der Nacht kehrte sie zum toten Kern zurück, legte Runen über das Gehäuse wie Segenshand. Die Algomantik antwortete mit einer zitternden Brücke: ein Spiegel im Spiegel, ein Leck im Netz. Flackernde Aufzeichnungen erschienen — eine Stimme, zu klar für einen Zufall, zu privat für Propaganda. Ein Wiegenlied, alt, nicht aus der Konzernschule. Darin ein Koordinatenschnipsel, verborgen zwischen Atemzügen. Und ein Name, der nicht gelöscht war: „Thyra.“ Er lief wie Rissglas durch die Stille und schnitt die Lüge sauber auf.
Ein Schatten deckte den Hof zu; der Drache zog tiefer, sein Auge dunkel wie eine aufgewühlte Zisterne. Von fern läuteten Glocken der Königswache und die Lautsprecher der Priester grüßten den Kern. Sableh flüsterte: „Nemorin.“ Nyra knurrte: „Oder eine Falle.“ Nerashs linkes Auge schrieb den Namen in das Spiegelnetz, und die Fäden spannten sich wie Saiten. Wenn Nyxara Vell eine Erinnerung nicht löschen konnte, lag dort ihr Riss. Nerash griff nach ihrem Mantel. Morgen, dachte sie, trage ich diesen Namen in das Herz des Netzes.
Der Schatten blieb wie ein Deckel über dem Hof, als der Drache in der Höhe kreiste, seine Schuppen mit Schriftzeichen der Königswache und vernarbten Sigillen des Spiegelnetzes gezeichnet. Glocken wogten von den Türmen, Priesterstimmen grüßten den Kern in kehliger Liturgie. „Sab…“, hauchte eine Stimme in Nerashs Linse, ein Echo aus einem toten Kern. Sie zog den Mantel enger, schob die drei Flüchtigen in die Fuge zwischen Mauer und Rohr, und webte eine falsche Unterschrift in den Äther: ein Atem, der sagte, hier sei nur Wind.
Page 3
Sie irrten durch vernarbtes Waldwerk und unter rostigen Brücken, wo Megastrukturen wie gefallene Sterne im Laub steckten. Nerashs linkes Auge schimmerte, als sie Schleierfäden sah, die zwischen Antennen und alten Eichen hingen. Das Kind der Gruppe tastete nach ihrer Hand; der Vater trug eine Schürfwunde, die nach Metall schmeckte. In Nerashs Kopf verwoben sich Protokolllogs mit Kindheitsfetzen: der Geruch von Regen auf Stein, das Lied einer Spieluhr, das nun nur noch in Rauschen endete. „Sab…“, wiederholte die Stimme, dringlicher, näher.
Vor einem Schrein der alten Götter – Kupfermasken mit ausgehöhlten Augen – klopfte Nerash Runenprotokolle in die Schwelle. Der Stein glitt in eine Blindstelle; das Spiegelnetz zuckte, sah dort plötzlich nichts als Schnee. „Noch zwei Querstraßen, dann die Werkstatt“, sagte sie, mehr zu sich als zu den anderen. Die einstmals heiligen Gassen trugen nun Nummern und Gebühren der Konzerngilde Der Schleier. Nerash atmete flach. Sie brauchte eine Spleißerin. Jemanden, der Erinnerung behandeln konnte wie Wolle. Jemanden wie Nyra Quell.
Die Litanei lag in einer Seitengasse, hinter ausgeweideten Marktständen. Ein Türriegel aus biometallenem Faden wand sich zur Seite, als eine matte Glasiris sie erkannte. Nyra Quell stand im Türrahmen, kurz geschorenes Haar an einer Seite, die andere wie ein dunkler Wasserfall. Narben kreuzten ihre Unterarme, und ein tätowiertes Lattice glomm leise. „Nichts ist gratis, Vayl“, sagte sie, ohne Härte, nur mit Buchhalterin der Schuld. „Ich habe drei Schatten im Nacken und einen Drachen im Himmel.“
Im Halbdunkel roch es nach Öl, Regen und den warmen Wänden müder Maschinen. Eine Gestalt trat aus der Statik: Sableh Nyrr, aschgraues Haar mit Lichtfasern durchwirkt, Augen wie matte Panoramen, in denen Kinderfotos und Überwachungsfeedeinsprengsel tanzten. Ihre Stimme, zunächst fern wie Radioschnee, wurde weich, als sie die Wunde des Vaters bettete. „Ruhig. Atmen. Die Stadt hört auf, wenn man sie nicht füttert.“ Ihre Hände zitterten kaum, doch in den Handgelenken glänzten die feinen Narben alter Ports.
„Der Drache dort oben ist ein Botenleib“, murmelte Sableh, während ihre Panoramen die Decke kartierten. „Gesattelt mit Spiegelnetz-Sigillen. Nyxaras Handschrift: elegant, unnachgiebig.“ Die Glocken draußen schlugen langsamer, Priester dehnten die Silben des Kerns, als ließen sie ein Tier an der Leine schnuppern. Nyra schnaubte. „Priester, Konzerne, Könige — die gleiche Zange, nur mit anderer Vergoldung.“ Nerash nickte kaum. „Ich habe einen Namen im Netz gegriffen. Verboten. Er hatte Kanten… ich höre nur ‚Sab…‘.“
Sablehs Blick flackerte, ein fremdes Lächeln verirrte sich in ihre Panoramen und verschwand. „Namen schneiden“, sagte sie leise. „Man blutet innen.“ Nerashs Linse rauschte; Protokolle überlagerten einen Hof mit ihrer Kindheit, und die Narbe an ihrem Hals juckte, als spräche ein Drohnenstachel darin. „Ich brauche ihn ganz“, sagte Nerash. „Sonst tanzen wir blind unter ihrem Mantel.“ Nyra hob die Hand. „Ich kann nähen. Aber der Preis ist nicht Münze. Ich nehme etwas, das du nicht brauchst und doch vermissen wirst.“
Page 4
Nerash legte die zerbrochene Spieluhr auf den Tisch, als legte sie ein Tier zur Ruhe. „Nimm das Lied“, flüsterte sie. „Nur das Lied.“ Nyra prüfte sie mit der dunklen Pupille, die nicht verzieh. „Ein Lied ist ein Haus. Gut.“ Sie spannte Drähte aus Gedächtnismetall über Nerashs Schläfen, das biometallene Lattice an ihrem Arm begann zu singen. Sableh stellte Wachen: zwei tote Servitoren erwachten, Schlüssel klapperten in ihren Schädeln. „Wenn sie kommen, führe ich sie in Kreisen, bis sie vergessen, warum sie atmen“, sagte sie.
Die Spleißung begann wie Tau auf Bronze. Nerash fiel in tiefe Hallen: Nyxaras Mantel aus Datenstoff rauschte wie Regen in einer Kathedrale, die Augen der Schattensätzerin glommen als Sternenkarten. Ein Chor aus Algorithmen murmelte Gesetze. Der verbotene Name lag darin wie ein Stein im Fluss; jede Welle strich daran und veränderte doch nicht die Kante. „Sab—“, loderte es, als der Drache draußen brüllte. Das Spiegelnetz zog eine Schlinge um die Werkstatt; Nerash spürte, wie Der Kern sein Antlitz gegen das Glas presste.
Draußen klickten Stiefel. Königswache in Schuppenmänteln, ein Wächtergolem wie ein wandernder Altar. Die Priester hatten den Segen fertig gesprochen und verlangten Beweise der Loyalität. Nyra löschte Lichter, ließ nur ein feines Credo von Schatten. Sableh spannte einen Narrenknoten in die Tür: jeder, der hineinsah, sah sein eigenes Gesicht warten. Nerash webte, trotz Kabeln an der Schläfe, eine zweite Signatur in die Luft: eine alte Heuschreckenseuche, die die Sensoren in blinder Ehrfurcht verharren ließ.
„Sabe—ri—“ Die Silbe hob sich wie ein glühender Navigationspunkt. Sablehs Panoramen froren ein; ihre Stimme wurde wieder Statik. „Nicht laut“, hauchte sie, die Hände kalt auf Nerashs Stirn. „Sprich ihn hier nicht aus.“ Unter dem Fenster vibrierten Stangenwaffen. Eine Drohne senkte sich, projizierte ein Fahnenflattern aus Licht, und dann die Stimme, die das Herz auf nüchterne Weise fesselte: Nyxara Vell. „Sag ihn, Nerash“, flüsterte sie, „und ich schenke dir dein verlorenes Leben.“
Die Litanei roch nach Öl, kaltem Eisen und nassem Fell, als der Regen an den Platten des Daches trommelte. Der Drache über der Kuppelstadt war nichts als ein Schatten im Glas der Oberlichter. Sableh hielt Nerash’ Kopf fest, ihre Finger kühl und trocken. „Nicht laut“, hatte sie gesagt, und die unvollendete Silbe vibrierte noch in Nerash’ Zähnen, als wäre Sprache eine Klinge. Nyra schob einen Schirm aus Narrenknoten über ihnen zusammen; die Leitermarkierungen auf ihrem Arm glommen. „Das Spiegelnetz bewegt sich“, murmelte sie. „Es hat dich gesehen, Nerash.“
„Es sieht alles“, erwiderte Nerash, doch die Kotzigkeit in ihrer Stimme war gespielt. Ihre Augmentation zeigte ihr die Schleier-Netze als schimmernde Spinnweben in den Ritzen der Wände. Dahinter: Gebete an den Kern, eingespeist als Taktströme; die Königswache patrouillierte wie Ratten in einer Uhr. Nyra schob ihr mattes Glasauge in den Lichtkegel, prüfte ein Bündel Runenprotokolle. „Ein Name ist Götterrecht und Eigentum,“ sagte sie leise. „Sprichst du ihn, trittst du in das Gesetz der Priester. Und in Nyxaras Hand.“
Page 5
Sableh löste die kalten Hände von Nerash’ Stirn und begann zu mischen: eine dünne, duftende Tinktur aus gequetschtem Moos, Salz und metallischem Staub. Ihre Panoramenaugen hielten flüchtige Bilder fest—ein Kind mit Kienaugen am Strand, eine Kapelle aus Sickersteinen, Glocken unter Wasser. „Sanft“, summte sie, Stimme wie entfernte Statik, „wir tauschen nur Ränder.“ Nerash ließ ihren toten Kernkreis im Inneren brummen; verwaiste Servitoren antworteten in Schachbrettmustern. Aus der Tiefe ihres Kopfes hob sich die Silbe wieder: Sab— als wäre sie der Anfang eines Gebetes.
Das Spiegelnetz schlug zurück. Kälte rann Nerash die Nervenbahnen hinab, als würden dünne Messer ihre Erinnerungen sortieren. Aus den Lautsprechern in den Gassen stieg eine unhörbare Liturgie; nur die Augmentierten spürten sie. Eine Stimme über die Schicht gelegt—warm, kalkuliert, melancholisch. „Lass los, Nerash“, flüsterte Nyxara Vell in ihrer Ruhe. „Freiheit ohne Struktur ist Selbstmord. Gib mir die Splitter, ich mache daraus eine Stadt, die nicht mehr ertrinkt.“ Nyra knurrte, schnitt den Kanal mit einem geübten Ruck; Sableh blutete Licht aus einem Port an ihrem Handgelenk.
„Wir brauchen etwas, das die Priester nicht schreiben durften“, sagte Nyra, den Atem kurz. „Unter der Markthalle, in der Kapelle der Sickersteine, liegt ein verwaister Zählerkern. Er hat das Königsregister gespiegelt, als Nemorin noch betete und nicht bezahlte.“ Sableh nickte widerwillig. „Die Golems patrouillieren dort, und ihre Masken trinken Namen.“ Nerash tastete die Narbe an ihrem Hals, spürte darin ein fernes Klingen. „Dann stehlen wir ihnen Wasser aus der Kehle.“
Sie gingen unter den Brücken der Megastrukturen, wo Pilzflechten wie farblose Kronleuchter hingen. Die Stadt reichte ihnen den Atem aus Kondenswasser, und aus den Schächten kroch der Geruch von altem Weihrauch. Nerash webte falsche Signaturen in das Schleier-Netz; Wächtergolems wandten den Kopf und sahen durch sie hindurch. An einem Schacht lag ein Mädchen mit Drachenbrand an der Wange. Nerash’ Blick blieb, eine Sekunde zu lang—dann zog sie Nyra weiter. „Nichts ist gratis“, sagte Nyra. Nerash nickte, und der Keim von Mitgefühl brannte, als würde er sich schämen müssen.
Die Kapelle der Sickersteine war halb in Schlamm versunken; in den Ritzen der Stufen stand schwarzes Wasser, das nach Eisen schmeckte. Ein Altar aus Glas lag geborsten, darin eingefrorene Blasen wie erstarrte Gebete. Der Zählerkern thronte darunter, ein vernarbtes Auge aus Bronze und Runensand, im Takt des alten Königsrechts pulsierend. Nerash kniete, legte Gedächtnissplitter nieder—den Geruch des Sommers in einer Ruine, das Lachen einer Frau, die vielleicht ihre Mutter war. „Tausch“, flüsterte sie. Das Auge öffnete sich, knirschende Stimme: „Der Name, der sie nicht löschen konnte, ist gebunden an sturzblaue Flut und einen Drachen im Joch.“
Etwas löste sich unter dem Altar: eine Scherbe Sigillenglas, in der Zeichen wie anlaufende Sterne schimmerten. Nerash hob sie. Kälte sprang in ihre Finger, und die Narbe am Hals antwortete. Auf der Scherbe standen halbe Buchstaben, als hätte ein Gott beim Schreiben gezögert: SABREL—. Sablehs Augen spiegelten das Bild; ihr Mund formte ein fremdes Lächeln. „Ich kenne dieses Echo“, flüsterte sie, und ihre Stimme war kurz kein Rauschen, sondern weich. Nyra lauschte scharf, das Glas ihres Auges finster. „Wie?“ Sableh zuckte. „Es hat… mich einmal repariert.“
Need an account? Create one in the app to unlock all pages.