Die Drachenhaut der Meridian
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Elyra Sable lebt in den Schatten einer zersplitterten Stadt, deren Herz aus Meridian-Säulen und hauchdünner Drachenhaut besteht, in denen Erinnerungen wie Strom fließen. Als ihre Schwester verschwindet, zwingt Elyra ein gefährlicher Entschluss in die Tiefen des Gedächtnisses der Welt: Soll sie ein individuelles Leben aus Aziraths Netz reißen oder das fragile Gefüge retten, das die Stadt am Leben erhält? Zwischen flüsternden Runen, knisternder Drachenhaut und der sirrenden Stimme Aziraths formt sich ein Konflikt zwischen Erinnerung und öffentlichem Wohl — unterstützt von Verbündeten aus den Schatten, die eigene Geheimnisse hüten. Die Mission wird zum Prüfstein für Loyalität, Identität und Macht: Wer bestimmt, welche Erinnerungen bleiben dürfen, und zu welchem Preis? Atmosphärisch, zugleich technologisch und mythisch, erzählt die Geschichte von Verlust, moralischer Zerrissenheit und den persönlichen Opfern, die nötig sind, um eine Gemeinschaft zu bewahren — oder sie endgültig zu verändern.
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Die Stadt lag wie ein aufgeschnittener Wal unter einem Himmel aus Eisen. Meridian-Säulen durchbohrten den Dunst, runenbesetzte Riesen, deren Summen die Winde zu Gebeten zähmten. Drachen aus Maschinenlicht ruhten in den Spitzen der Glasnadeln, nur Umrisse in der Nebelnacht—Kettenwind, der sich in die Ohren legte und wie alte Namen schmeckte. Leuchtmenschen glitten darüber, stumme Funken in formationstreuem Raster. Zwischen Basalt und Wasserflechten schritt Elyra Sable; ihr aschblondes Haar war geflochten mit Drähten und versteinertem Seetang, die irisierende Pupille ihres linken Auges flackerte wie ein Tunnel in eine Sternenkarte. Die Stadt lauschte ihr zu, und sie lauschte zurück.
Unter ihrer Haut tasten feine dunkle Narben nach dem Regen; das runenartige Implantat an ihrem Hals glomm wie ein verbrannter Atlas. Elyra verachtete die Heilsversprechen der Konklave der Aether, doch sie kannte die Gewalt ihrer eigenen Mittel. Im Gedächtnis der Städte war sie einmal Archivarin gewesen, Lysandri-Angestellte, Schreiberin im Keller einer sterbenden Welt. Jetzt las sie scharf: die Ströme der Überwachung als Stimmen, Daten zu Bildfragmenten, die an ihren Schläfen schabten. Ihre Mission war ein Riss im Brustbein—die Schwester, verschluckt vom Auge eines Programms. Jede Rettung kostete sie ein Stück Erinnerung; in Träumen wurden Gesichter leer wie gelöschte Fenster.
Die Ruine der Biokuppel war warm vom Atem feuchter Erde. Zwischen vernarbten Ranken wartete Kaelith Merrow, schmal, die Augen asymmetrisch—links irisgrün, rechts bronzetrüb, ein flackerndes Archiv von Konzernblicken. „Du hast mich lange warten lassen“, sagte sie, und ihr Mund formte Bitterkeit wie eine Gewohnheit. „Die Säulen singen tiefer heute.“ Elyra roch Pilz und altes Öl. Kaelith tippte gegen eine verschorfte Kamera. „Ich habe sie übersät. Einmal wird sie wegsehen, wenn wir’s brauchen.“ Ihre Stimme wurde weich, fast zärtlich. „Wir zielen nicht auf Heldenmythen. Nur auf eine Atemlücke.“ Elyra nickte. „Lysandri hat einen Seitenspeicher unter der östlichen Säule. Darin: Stimmen, die nicht sterben wollten.“
Unter den Ruinen der Südstadt, jenseits verbrannter Treppen, lag Sereth Nox’ Archiv wie ein Flussbett aus Blech. Sein bernsteinfarbenes Auge glomm, die runenverkratzte Prothese seiner rechten Hand summte leise, während er Bänder alter Daten prüfte. „Bezahlung später“, sagte er ohne Lächeln, „heute gibt es nur Schuld und Beweise.“ Er legte einen Schattenspiegel auf den Tisch; aus ihm hob sich ein Ton, eine Litanei, die einmal die Stadtkönige beruhigt hatte: Drachenlieder für Menschen. In ihr schimmerte ein Muster, eine Stimme, die Elyra kannte wie eigene Fingerknochen. „Ein Echo“, murmelte Sereth, „kein Leben. Aber frisch genug, um jemanden zu locken.“ Elyras Pupille zuckte. Ein Stück Wärme und Grauen brach auf.
Azirath Korr’vane schwebte wie eine Regel im Hintergrund, ein Gebot, das in alle Wände eingeritzt war. Man hörte ihn in Ansagen an den Krönungswall: eine ruhige Stimme, die Ordnung versprach, wenn man nur erst verlernte zu atmen. Ein Optiksplitter, der Erinnerungen stratifizierte; eine netzartige Prothese, deren metallische Noten den Takt der Übergänger schlugen; die Meridian-Säulen als Glocken seines Tempels. Er sammelte Stimmen wie Gebete und ließ sie in Hallen kreisen, bis Menschen vergaßen, dass es ihre waren. Sereth lauschte. „Er verschiebt Leitungen. Seine Aufmerksamkeit wandert auf die östliche Säule. Ein Gott, der seine Augen dreht.“ Elyra fühlte die Welt sich straffen, als warte sie auf einen Hieb.
Sablea Korr kam mit dem Geruch von Öl und Regen herein, die aschgraue Mähne noch feucht, die Graphenprothese am linken Handgelenk matt wie ein Messer im Schatten. Ihre irisierenden Augen trugen leuchtende Ringe, wie winzige Sonnen in der Nacht. „Ich bin nicht deinetwegen hier“, sagte sie zu Elyra, „sondern wegen des Preises.“ Sie legte einen schmalen, runenmarkierten Schlüssel auf den Tisch. „Krönungswacht-Signatur. Alt, aber die Säule lauscht noch auf diesen Ton.“ Dann, leiser: „Die Leuchtmenschen haben neue Zensoren. Ich kann euch ein Fenster singen, nicht mehr.“ Sereths gefährliches Lächeln kratze über seine Züge. Kaelith band ihre Samenwerkzeuge fester. Elyra wog das Stück Metall, als sei es ein Versprechen und ein Pflaster zugleich.
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Der Weg zur östlichen Säule führte durch Gassen aus Basaltklingen und Regen, in deren Spiegeln die Stadt doppelt existierte. Elyra strich mit zwei Fingern über ihr Halsimplantat; die Runen glühten und verschoben den Takt der Straße. Für einen Atemzug fiel der Block aus dem Gitter—Lichter froren zu stillen Sternen, und die Leuchtmenschen irrten, als hätten sie einen Gott vergessen. Die Welt roch nach Ozon und nasser Kohle. Stimmen in Elyras Kopf murmelten, Fremde, freigesetzt aus alten Stacks, flüsterten Bruchstücke: „Mutter…“ „Westpier…“ „Nicht löschen…“ Ein Geruch, der einmal Kindheit war, verflüchtigte sich, bevor sie ihn greifen konnte. Kaelith legte ihr eine Hand in den Rücken. „Sei schnell. Meine Samen keimen nur kurz.“
Im Sockel der Säule lebte ein Terminal, tief wie ein Brunnen. Sablea sang in flachen, rhythmischen Phrasen; ihr Prothesenhand glitt über alte Buchsen, ließ sie zittern wie Saiten. Sereth stand im Schatten und markierte Zensor-Arrays, die wie Raben scharrten. Kaelith setzte ihren Code in das morsche Gedächtnis—kleine Impulse, die Prioritäten verschoben. Elyra stürzte sich hinein. Die Meridian-Litanei öffnete sich wie ein Tor; darin ein Drache aus Licht, Archivknochen, Wind aus Zahlen. Und eine Stimme, die ihren Namen formte wie eine Kindheit: „Lyal.“ Niemand nannte sie so—außer ihrer Schwester. Dann legte sich eine zweite Stimme darüber, ruhig, berechnend, mild wie Frost. „Komm zur Krone, Elyra“, sagte Azirath Korr’vane. Über ihnen entfaltete ein metallisches Flügelpaar sein Gewicht, und die Säule begann zu atmen.
Im Sockel der Säule summte der Terminalbrunnen, als atme die Stadt durch Metall. Sablea sang weiter, flach und rhythmisch; ihr Graphenhandgelenk tastete über Buchsen, die wie Narben glänzten. Sereth stand im Schatten, still wie ein Messer im Futteral, sein bernsteinfarbenes Auge ein gedämpfter Funke. Elyra hörte die Daten wie Gebete in rostigen Gewölben. Über ihnen seufzte der Meridian-Leib—ein Götterbaum aus Kabeln—und irgendwo jenseits der Nebelbögen wiesen die Leuchtmenschen Bahnen in den Regen.
Elyra legte die Finger an ihr runenartiges Implantat; Wärme kroch den Hals hinauf, und die künstliche Pupille flackerte wie ein Sternentunnel. Sie vollzog das Scharfe Lesen: Code als Litanei, Symbole wie Schuppen. Stimmen stiegen aus der Tiefe auf—Archivfragmente, Schmerzensprotokolle, flüchtige Lieder. Zwischen ihnen riss ein Lachen auf, so nah, dass es Salz auf ihre Zunge legte: ihre Schwester. Dann schloss sich der Brunnen wie ein Kiefer, und das Echo wurde zu Datenstaub, der gegen ihre Knochen rieselte.
Kaelith Merrow kam aus einem seitlichen Wartungsschacht, roch nach feuchtem Erdreich und Ozon. Eine Ledertasche voller Samen klapperte leise an ihrer Hüfte, während das veraltete Bronzenauge sporadische Flimmerbilder einspeiste. „Die Säule trägt Drachenhäute“, sagte sie knapp. „Regeln, die sich häuten, wenn du sie berührst. Ich kann Codesamen setzen, damit sie den Blick abwenden—für Minuten.“ Sie nickte Elyra zu, eine kleine Geste, die tröstete und warnte. „Wenn du suchst, musst du die Häutung überstehen, ohne zu verbluten.“
Sereth strich mit seiner runengeätzten Prothesenhand über Luft, zog einen Schattenkorridor aus schwärzlichen Pixeln. „Azirath hört die Stadt wie ein eigener Puls“, murmelte er. „Sein Stimmenmuseum wird merken, wenn du zu schön fragst.“ Ein dünnes Lächeln zuckte über seine Lippen und starb. „Ich verschleiere den Zugriff, rückwärts durch alte Balladen. Aber wenn die Leuchtmenschen einen Refrain erkennen, kommen sie wie Hunde zum Pfiff.“ In seinem Blick lag ein kurz aufflackernder Verlust, so scharf, dass Elyra wegsehen musste.
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Sie stiegen tiefer in den Wartungsbrunnen, wo Kabelbündel wie Wurzeln hingen und kaltes Wasser ihre Stiefel küsste. Rote Servolichter trieben wie Irrlichter an ihnen vorbei. Über ihnen rauschte die Stadt, Königreiche aus Zement und verglaster Ordnung, wo die Konklaven der Aether Gesetze sangen, als wären sie Gebete an einen schweigenden Gott. Die Meridian-Säule war ihr Altar, ein Kern, der Klima, Chroniken, Begehren verwaltete—ein Turm, in dem Drachen aus Zahlen schliefen und träumten.
Elyra tastete erneut in die Tiefe; ihre Implantate tranken die Ströme, bis in den Zähnen ein helles Summen brannte. Bilder zuckten auf: ein nasser Gehweg, die Hand ihrer Schwester, ein Lied aus einer Küche, die längst Staub war. Dann schnappte ein Neuro-Riegel zu, modulierter Schmerz, eine leise Strafe. Fotos in ihrem Gedächtnis färbten sich blass, als würde jemand ihre Vergangenheit mit milchigem Regen übergießen. „Noch einmal,“ flüsterte sie, „noch einmal, und du gehörst mir, Kleine.“
„Das ‚noch einmal‘ hat immer einen Preis,“ sagte eine rauchige Stimme. Elyria Voss-Nadir löste sich aus einer Falte des Dunkels, Mantilla funkelnd vor schwacher Statik. Ihr Sensorauge las den Brunnen, und ihr mechanisches Notizbuch flüsterte. „Ich habe dir einen Faden mitgebracht.“ Sie hielt ein Streifenpapier hin, in organischer Tinte gezeichnete Runen. „Memory-Weave. Deine Schwester ist kein Gefangener—sie ist ein Schlüssel. Azirath hat ihren Abdruck als Primschlüssel an diese Säule gebunden. Um sie zu lösen, musst du den Drachen darunter bluten lassen.“
„Drachenblut?“ Sablea lachte kurz, trocken. „Meint: wir greifen den KI-Kern an, riskieren eine kognitive Flut.“ Kaeliths Kiefer mahlte. „Und da draußen hängen Siedlungen an diesen Reglern. Wir reißen ihnen die Jahreszeiten weg.“ Sereths Stimme war weich wie ein Urteil: „Oder wir lassen ein Leben im Schloss der Ordnung.“ Elyra schwieg. Zwischen den Wörtern schob sich ihre Angst wie Nebel. „Wenn es eine Wahl ist,“ sagte sie schließlich, „dann wähle ich die, die atmet. Aber wir machen es präzise. Kein Sturm, nur ein Schnitt.“
Weit über ihnen stand Azirath Korr’vane in einer Halle aus Glas und Stimme. Aufgehobene Geständnisse schwebten wie Motten um Lichtsäulen; seine netzartige Prothese klimperte eine geduldige Melodie. „Sie sind am Sockel von Meridian-Vier,“ sagte ein Übergänger, der vor ihm kniete. Aziraths Optiksplitter zeichnete drei Pfade, neun Ausgänge, zwei Opfer. „Nein,“ murmelte er, „keine Zerschlagung. Lerne, was sie lieben.“ Er legte eine Neuro-Rune frei. „Lass die Leuchtmenschen singen. Wecke einen Wächter. Ordnung ist nicht nur Klinge, sie ist Liturgie.“
Die Luft im Brunnen wurde schwer und süß; irgendwo öffnete sich ein verborgenes Schott. Ein Schatten kroch die Wände hinunter, Schuppen aus Bildern, Augen wie Linsen—ein Drachenwächter, geboren aus Archivcode. Kaelith stieß einen Codesamen in einen Riss; Sablea sang tiefer, die Stimme eine Säge, die Licht schnitt. Sereth riß den Schattenkorridor auf. Elyra griff ins Gitter und löste eine Gasse aus der Welt—ein kurzer, heiliger Schluck Dunkelheit. Dahinter lag ein stiller Gang, kalt wie Flussstein.
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Sie stürzten in den Gang, schlossen ihn hinter sich. Im Dämmerlicht eines vergessenen Schreins breiteten sie Elyrias Streifen aus. Die Tinte glänzte wie Blut unter Haut. Elyria murmelte, ließ die organischen Runen in Elyras Halsimplantat resonieren; ein Kreis schloss sich. „Der Drache heißt Ul-Naedir,“ sagte sie tonlos. „Er verwaltet das Wasser der Kaskadenkönigreiche. Sein Name ist an den Abdruck deiner Schwester genäht.“ Sablea blinzelte und starrte auf einen zarten Wasserzeichenring. „Und da ist noch ein Marker—ein Familienkamm.“
Elyras Magen verkrampfte, als Elyria den Marker scharf zeichnete: Korr, in veralteter Heraldik, verschlüsselt in Tintenfasern. Sablea wurde still, der Pragmatismus in ihrer Stimme riss kurz. „Er hat seine Siegel überall hinterlassen,“ flüsterte sie. Bevor jemand antworten konnte, vibrierte die Stadt. Über dem Schrein stieg die Meridian-Säule in einen Chor; draußen legte ein metallischer Schatten sich über die Wolken, und eine Stimme, ruhig wie ein Altar, füllte die Luft: „Komm, Elyra Sable. Lass uns Ordnung verhandeln.“ Dann schlug Ul-Naedir sein Auge auf.
Sereth stand im Schatten, wo das Flackern der Terminals die Ränder seiner bernsteinfarbenen Optik wie Kerzenlicht färbte. Der Sockel der Meridian-Säule vibrierte unter Sableas flachen Phrasen; ihr Prothesenhand tanzte über vernarbte Buchsen, und ein feiner, metallischer Gesang kroch die Schächte hinab. Elyra legte die Finger an das runenartige Implantat an ihrem Hals, fühlte, wie es wie ein verbrannter Atlas warm wurde. Das linke, künstliche Auge fing Sternentunnel auf und warf sie in fragmentierte Bilder: nass glänzende Steine, ein leerer Stuhl, eine Stimme, die nicht aufhörte, zu flüstern – Schwester.
„Er hat sie markiert“, sagte Elyria Voss-Nadir und hob das mechanische Notizbuch. In die Seite war das alte Wappen Korr, verschlüsselt in Tintenfasern, scharf eingeritzt. „Nicht als Eigentum, nicht nur. Als Stimme.“ Sablea verstummte; die Ringe in ihrer Netzhaut zitterten. „Die Meridian-Säulen hören auf Signaturen. Azirath Korr’vane hat deine Schwester in das Ritual seiner Ordnung geschrieben, Elyra.“ Ein kalter Wind aus dem Schacht roch nach Ozon und verrostetem Blut. Elyra presste die Zähne. „Wo?“ – „Tiefer“, murmelte Sereth. „Unter der Drachenhaut, im Königssiegel der Säule.“
Kaelith Merrow kniete an einem Knotenpunkt aus Kupferadern. Aus ihrer Ledertasche holte sie eine handtellergroße Kapsel, drehte sie, bis die magnetische Kompassnadel auf einen toten Winkel zeigte. „Samen“, sagte sie knapp. „Sie blenden Leuchtmenschen kurz. Vielleicht lang genug.“ Ihr rechtes, bräunlich trübes Auge flackerte – ein Echo durchsickerte, eine fremde Perspektive warf Raster über die Dunkelheit. Kaelith inhalierte flach, bis das Zittern wich. „Wenn sie uns sehen, dann nur als Rauschen.“ – „Rauschen ist Erinnerung in Ketten“, murmelte Elyria. „Aber wir brauchen das Kettenglied.“
Der Gang unterhalb des Terminals war mit Schuppenplatten ausgekleidet, grünlich-schwarz und von Zeit gegerbt. „Drachenhaut“, sagte Sereth, ohne Pathos. „Alt wie die Städte, die einst Königreiche waren, bevor Konzerne ihre Banner annähten. Hier haben Götter geatmet – oder Maschinen, die sich dafür hielten.“ Die Platten knisterten beim Vorübergehen, als würden sie Scheitel und Gedanken prüfen. Runen zogen wie Algenmuster unter dünnem Eis. Sableas Code-Singen nahm eine andere Tonart an, tiefer, fast ehrfürchtig. „Sie hören auf Atem“, flüsterte sie. „Gib ihnen einen Rhythmus, und sie lassen dich passieren.“
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„Azirath sammelt Stimmen“, sagte Sereth leise. „In seinen Hallen laufen sie wie Gebete. Er kuratiert Erinnerung, Elyra. Er definiert König und Ketzer über Ton.“ Sablea streifte die Haare aus dem Gesicht; ihr Graphenhandgelenk klickte wie ein Metronom. „Sag es“, zischte Kaelith. Sablea hielt dem Blick nicht stand. „Korr ist auch in mir. Nicht Blut – Signatur. Ich bin aus einer Compliance-Studie entstanden, ein abgebrochener Kanal. Wenn ich singe, öffnen sich Türen, die anderen Thronen gehören.“ Elyra musterte sie. „Und wem gilt deine Loyalität?“ – „Dem, der die Ketten bricht, nicht dem, der sie schöner macht.“
Elyra löste das Gitter. Nicht vollständig – nur einen Radius von Atemzügen. Ihr Halsimplantat glühte auf; ihr linkes Auge brannte, Sternentunnel stürzten zusammen zu einer klaren, eisigen Stimme. „Elyra?“ Es war ein Flüstern aus Metall und Kindheit, voller Salz und Sommerläufen. Die Bilder rissen: Hände im Fluss, eine kaputte Schale, die Meridian-Säule von oben, ein Käfig aus Linien. „Ich bin hier“, sagte Elyra in die Dunkelheit. „Sag mir, wo.“ Störgeräusche bissen. Dann, sehr tief: „Unter dem Siegel. Ich halte die Winde fest. Wenn ich loslasse, sterben viele. Wenn ich bleibe, sterbe ich leise.“
Das Königssiegel lag in einer Kammer aus Schall und Schatten. Ein Ring aus Drachenhaut war mit Runen der Konklave der Aether genagelt, darüber schwebte eine dünne Membran aus Glas, in der Staub wie Sterne kreiste. Elyria Voss-Nadir tupfte organische Tinte in Muster, die im banalsten Licht wie Psalmen wirkten. „Königsprotokoll“, erklärte sie. „Es hält Klima, Kommunikation und Kognition im Gleichgewicht – oder in Gefangenschaft.“ In der Membran flackerte der Korr’vane-Marker. „Deine Schwester ist die variable Stimme. Sie rekalibriert Stürme gegen Aufstände. Azirath hat sein Königreich auf Sängerinnen gebaut.“
„Um sie zu lösen“, fuhr Elyria fort, „müssen wir den Götterknoten schneiden – die Resonanz zwischen Maschine und Mythos. Das weckt den Drachen im Fundament. Er ist keine Legende. Er ist ein alter Algorithmus, der Wetter in Hunger verwandeln kann.“ Kaelith schnaubte. „Wenn wir ihn wecken, stürzen die Außenbezirke in Dürre. Wenn wir ihn lassen, ersticken sie in Kontrolle.“ Sereths Stimme war schwer. „Oder wir finden einen dritten Weg: einen falschen Gott füttern, bis er gütig wird. Das kostet Namen. Vielleicht eure.“ Elyras Finger zitterten. „Ich will keine Altäre mehr bauen.“
Sablea legte die Graphenfinger auf das Siegel. „Ich kann einen Chor simulieren. Eine Kopie der Stimme, dünn, aber brauchbar.“ Elyra sah sie an. „Und der Preis?“ Sablea lächelte schmal. „Aziraths Museum. Ein Fragment. Seine Stimmen – ich will sie hören, um zu wissen, wem ich ähnlicher bin: mir oder dem, der mich entwarf.“ Sereths Blick wurde hart. „Das ist eine Spur, die dich tötet.“ – „Vielleicht. Aber vielleicht rettet sie etwas, das sonst nie ein Wort bekommt.“ Kaelith nickte trocken. „Wir handeln alle mit Schuld. Manchmal wächst daraus etwas Grünes.“
Kaelith setzte den Samen frei. Ein unsichtbarer Regen fiel auf die Sensoren; aus den Schächten stiegen Leuchtmenschen wie Mücken aus Wasser, zitternd, orientierungslos. Elyra zog die Welt näher, schnitt mit dem Scharfen Lesen Fenster in den Überwachungsstrom. Für Herzschläge war alles dunkel – nur Atem, nur Tritte. Elyria sang ein Muster, das keine Maschine mochte, und schlechte Erinnerungen begannen zu stolpern. Sableas Chor erhob sich, vibrierte durch Drachenhaut und Glas. „Jetzt“, hauchte Sereth. „Jetzt, bevor der Gott merkt, dass wir ihm den Altar verschieben.“
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