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Die Sonne ging unter. Der alte Mann in seinem Schaukelstuhl wusste, dass dies der letzte Sonnenuntergang seines Lebens sein würde. Doch er hatte gesagt, was ihm zu sagen blieb, und getan, was zu tun war. Der alte Mann war glücklich.
»Die Welt besitzt sowohl physikalisch als auch ökonomisch die Kapazität, genügend Nahrung zu produzieren, um Bedarfssteigerungen bis zum Jahr 2000 begegnen zu können. Im Durchschnitt wird die Weltnahrungsmittelproduktion voraussichtlich schneller anwachsen als die Weltbevölkerung. Verteilungsprobleme über die Regionen hinaus oder innerhalb derselben schmälern (jedoch) auch die hohen Wachstumsraten.«
Council on Environmental Quality, US-Außenministerium: GLOBAL 2000 – Der Bericht an den Präsidenten – Frankfurt 1980
»Meine Damen und Herren, es ist mir eine Ehre, hier vor dem größten Publikum zu sprechen, das ein Mensch je hatte. Alle Rundfunk- und Fernsehstationen der Welt übertragen diese Rede live, und ich hoffe, Sie nicht zu enttäuschen. Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen: die Geschichte, wie ich den Pillensender fand, den die besten Physiker unseres Jahrhunderts neunzig Jahre lang vergeblich suchten, und wie ich seine Funktionsweise enträtseln konnte. Doch es ist nicht meine Geschichte – es ist die Geschichte eines Mannes, der, solange ich ihn kannte, immer ein alter Mann war.«
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»Nicht die nationale oder globale Bevölkerungszahl entscheidet über den Rationalisierungsgrad der Produktion, die Zusammensetzung des Kapitals und den Güterausstoß, sondern jener nie und nimmer frei zu nennende obskure Prozeß, der in idyllischer Sprachregelung immer noch Markt geheißen wird.«
Henrich von Nussbaum: Die Zukunft des Untergangs oder Der Untergang der Zukunft – in: Dennis L. Meadows u. a.: Wachstum bis zur Katastrophe? – Pro und Contra zum Weltmodell – München 1974
»Du bist also gekommen.« Der alte Mann stellte seine Kaffeetasse auf den Tisch und begann, seine Pfeife zu stopfen. Helen schwang sich auf das Holzgeländer der Veranda. »Paps schreibt mir eine Entschuldigung«, meinte sie, sich bequem zurechtsetzend, während sie den alten Mann beobachtete. »Dein Anruf klang so dringend, dass er mir sofort erlaubte, hier herauszukommen.«
Fasziniert beobachtete sie den langsam kreisenden Zeigefinger, der den Tabak gefühlvoll festdrehte – eine Bewegung, an die dieser Finger seit Jahrzehnten gewöhnt war; er hatte den Bogen schon lange raus, dem Tabak genau die richtige Festigkeit zu geben.
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Durch die Glastür, die ins Wohnzimmer führte, trat eine grauhaarige Frau, stellte ein Tablett auf den Tisch und begann, das Geschirr darauf zu räumen.
»Es muss wichtig sein, was er dir erzählen will. Er hat’s so eilig gehabt, dass ich ihm sein Mittagessen eine ganze Stunde früher machen musste.«
»Es hat trotzdem geschmeckt«, lachte der alte Mann. »Du kennst ja Anna; wenn irgendwas nicht geht wie geplant, wird sie gleich nervös.« Er lächelte seine Haushälterin an. »Du bist eine Perle. Bitte leg doch Musik auf; irgendwas von Liszt.«
Als die ersten Takte der Faust-Symphonie auf die Veranda drangen und die Pfeife des alten Mannes zu seiner Zufriedenheit brannte, wandte er sich seiner Urenkelin zu.
»Ich möchte dir eine Geschichte erzählen, die bisher noch niemand gehört hat. Und du bist der einzige Mensch, dem ich sie je erzählen werde.«
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» ... [die] Schwäche des Marktes besteht darin, daß er nicht auf Bedürfnisse, sondern nur auf Kaufkraft reagieren kann, d. h. nur auf jene Bedürfnisse, die sich als kaufkräftige Nachfrage manifestieren können. Wo der Markt die Produktion steuert, werden Nahrungsmittel nur dann produziert, wenn die Masse der Hungrigen auch genügend Kaufkraft besitzt, um Nahrungsmittel nachzufragen. Absolute Armut ist gerade dadurch gekennzeichnet, daß diese Bedingung nicht erfüllt ist. Von besonderer Bedeutung ist dabei, daß die Entwicklungsländer in den Weltmarkt integriert sind, ... daß die Kaufkraft der armen Bevölkerungsschichten für Grundnahrungsmittel mit der Kaufkraft der reichen Bevölkerungsschichten in Industrieländern nach Exportprodukten der Entwicklungsländer in Wettbewerb gestellt wird ... Es ist unter diesen Umständen nicht erstaunlich, daß die kleine Minderheit, die die Kontrolle über die Ressourcen innehat, höhere Gewinne durch die Veranlassung der Exportproduktion erzielen kann als durch die Produktion von Grundnahrungsmitteln ... Bei extremer Ungleichheit in der Einkommensverteilung wird ein Teil der zusätzlichen Nahrungsmittelproduktion in Produkte des sogenannten gehobenen Bedarfs umgewandelt (Fleisch-, Bier- und Schnapsproduktion etc.).«
Rolf Steppacher In: Fritz Kalberlah, Gerd Michelsen: Der Fischer Öko-Almanach, Frankfurt a. M. 1980
»Komm sofort zurück, du Scheißköter!« Wütend starrte er in die Dunkelheit. Normalerweise blieb der blöde Hund in seiner Nähe, aber wenn direkt vor seiner Nase ein Hase aufsprang ... Naja, in spätestens einer halben Stunde würde Huan wieder auftauchen. Er musste nur hier an dieser Stelle bleiben – und irgendwann würde dann ein schwarzbraunes Monstrum durchs Gebüsch gebrochen kommen, und Huan würde schwanzwedelnd vor ihm stehen, hechelnd, mit heraushängender Zunge und diesen verzogenen Mundwinkeln, die ihn schon vor langer Zeit zur Überzeugung gebracht hatten, dass Hunde lachen konnten. Dieses Spiel wiederholte sich alle paar Wochen – und wie immer würde Huan nichts fangen. Blieb nur zu hoffen, dass der blöde Köter nicht in eine Falle geraten würde ...
Er setzte sich auf einen Baumstamm, um zu warten, und begann, seine Pfeife zu stopfen.
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»Durch unsere Massentierhaltung nehmen wir den Menschen in der Dritten Welt die Existenzgrundlage. 90 % des Getreides nehmen wir diesen Menschen weg und verfüttern es an die Tiere. Um ein einziges Kilogramm Fleisch zu erhalten, sind bis zu 20 Kilogramm Getreide erforderlich. Wir töten indirekt die Menschen, indem wir ihnen das Getreide wegnehmen, um direkt die Tiere zu töten.«
Roland-Lothar und Christel Kohls: Der Lockruf der Esoterik, Saarbrücken 1991
»Ich wollte immer berühmt werden«, sagte der alte Mann nachdenklich, während er langsam in seinem Schaukelstuhl vorwärts und zurück schaukelte. »Oh, natürlich hätte ich das so nie zugegeben. Es war ja auch nur ein Traum ... Ich war damals gerade dreißig Jahre alt geworden, hatte kurz zuvor in Biologie promoviert und versuchte, mit wissenschaftlichen Veröffentlichungen etwas Geld zu verdienen – ein nahezu hoffnungsloses Unterfangen. Hauptsächlich aber war ich Hausmann und begeisterter Vater, während deine Urgroßmutter unseren Lebensunterhalt verdiente. Aber ich hatte immer schon gerne geträumt – auf dem Schulweg, vor dem Einschlafen ...
Als Kind stellte ich mir zum Beispiel vor, eine Art Supermann zu sein, später dann, berühmt zu werden, besondere Leistungen zu vollbringen – irgendwas in der Richtung, meist mitbestimmt von dem, was ich gerade gelesen hatte. Natürlich war ich mir dessen bewusst, wie irreal solche Träume waren – aber es hat mir immer viel Spaß gemacht, und ich habe es bis heute nicht aufgegeben.«
Während der alte Mann seine Pfeife wieder anzündete, drang die Stimme seiner Urenkelin an sein Ohr. »Nun, berühmt bist du ja geworden.« Helen unterdrückte ein Lachen. »Obwohl du es dir wohl kaum so vorgestellt hattest – als letzter natürlicher Vater in die Geschichte einzugehen ...«
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